Aldous Huxley: Schöne neue Welt

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Ein Klassiker der utopischen Literatur: Aldous Huxleys düsterer Roman ‘Brave New Word’

Eine Rezension von Rob Randall

Neben der düsteren Anti-Utopie 1984 von George Orwell stellt Aldous Huxleys verstörende Zukunftsvision Schöne Neue Welt (Brave New World) aus dem Jahre 1932 einen der paradigmatischen Texte des dystopischen Genres dar. Dabei unterscheiden sich – obwohl Huxley einen allmächtigen versteinerten totalitären Staat wie Orwell schildert – die beiden entworfenen Welten deutlich.  Während sich Orwells Werk vor allem mit der Bedrohung durch utopische Staats- und Gesellschaftstheorien auseinandersetzt, kritisiert Huxleys – neben allzu überzogenen positiven Erwartungen an die Wissenschaft – von ihm ausgemachte gefährliche gesellschaftliche Tendenzen. Obwohl beide Werke einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind, ist doch festzustellen, dass die Orwell’sche Warnung während des Kalten Krieges in der westlichen Öffentlichkeit in viel stärkerem Maße Beachtung gefunden hat als die Huxleys. Dieses änderte sich erst mit dem weitestgehenden Zusammenbruch der auf utopischen Ideologien fußenden Diktaturen Anfang der 90er Jahre. Seitdem hat die Schöne Neue Welt gegenüber seinem Konkurrenten zunehmend an Aktualität gewonnen – auch wenn jene in 1984 geschilderte Gefahr einer drohenden Totalüberwachung bzw. eines gläsernen Menschen nach der Ansicht Vieler nicht abgewendet zu sein scheint.

Kontroll- und Sanktionsmittel des Staates: Gefangen im Paradies

Ein Gramm versuchen ist besser als fluchen

An den auf Bestellung des Staates in der Retorte gezeugten Bewohnern des Weltstaates werden schon im Reagenzglas zu genau bestimmten Zeiten diverse chemische Eingriffe in der Keimbahn vorgenommen, womit sichergestellt wird, dass diese den Ansprüchen der Herrschenden ideal genügen. Dabei bestimmt das nach seinem Erfinder bezeichnete Bokanovskyverfahren nicht nur die physische Erscheinung der zukünftigen Arbeiter, sondern auch deren intelektuellen Fähigkeiten, denn innerhalb des in 5 streng voneinander abgegrenzten Kasten aufgebauten (und somit auch an jenes aus Platons Politeia erinnernde) Gemeinwesens müssen nicht alle Menschen über besondere Geistesgaben verfügen – ganz im Gegenteil: Die halbdebilen Epsilon- und  Deltagruppen, welche die wenig anspruchsvollen Arbeiten verrichten, bilden den größten Teil der Bevölkerung. Während die Betas noch nicht einmal in der Lage sind, eigenständige Gedanken zu entwickeln, kann dieses in Ausnahmefällen wenigstens einzelnen Alpha-Plus gelingen, wobei die der Entkorkung genannten Geburt folgende Aufnormung (Konditionierung) das aber so gut wie unmöglich macht. Denn hierbei werden sämtliche relevanten charakterlichen Eigenschaften, Verhaltensweisen und Einstellungen im Sinne des Systems genormt: vom Klassenbewusstsein über die Abneigung gegen andere Kasten sowie gegen die Natur bis hin zum sehnsüchtigen Verlangen nach Soma – jener Glücksdroge, die neben dem wenig anspruchsvollen Unterhaltungsangebot in Form von Sport und Medien immer dann konsumiert wird, wenn das Individuum – das als solches kaum noch zu erkennen ist – droht, unglücklich zu sein. Während bei Orwell zwecks Kontrolle eine technische und geheimdienstliche Totalüberwachung erfolgen muss, verhindert die vom Huxley’schen Staat vorgenommene Determinierung des Menschen und weitergehende Propaganda eine Abgrenzung des Einzelnen von der Gemeinschaft, der somit immer nur in der Gruppe glücklich ist,   – wodurch eine Abweichung von der Norm nahezu unmöglich ist bzw. leicht erkannt werden kann. Sollte das vom Kollektiv beobachtete Verhalten nicht den gewünschten Vorgaben entsprechen, droht die Versetzung an unangenehme Orte und – im schlimmsten Falle – die Verbannung aus der Gemeinschaft auf bestimmte Inselgruppen. Letztendlich verhindert so das den Menschen vom System beständig gewährte Glück, welches sie bei der Erfüllung ihrer Wünsche nach Bequemlichkeit, Spaß und Sex empfinden, dass sich der Einzelne bewusst wird, dass er nur jenen Bahnen und Gedanken folgt, die ihm von den Planern des Weltausichtsrates bei seiner Aufzucht mitgegeben worden sind – obwohl bei der Masse der Bevölkerung noch nicht einmal hierfür die intellektuellen Fähigkeiten vorhanden sind. Insofern erscheint das Staatsmotto Stabilität, Frieden und Freiheit insofern richtig, als dass das herrschende System sich zwar verewigt hat und es keine Konflikte irgendwelcher Art mehr gibt – die Freiheit aber ist nur eine scheinbare, denn nicht nur von der Norm abweichende Verhaltenweisen werden schon vor der Geburt weitgehend verhindert, sondern auch Wissenschaft und Kunst einer Zensur unterzogen.

Wilde, Egoisten, Überflieger: Helden die keine sind

Die schon im gleichen Jahr wie die Orginalausgabe – wenn auch zuerst unter anderen Titeln (Welt – wohin? bzw. Wackere neue Welt) erscheinende deutsche Übersetzung verlegt die Handlung mithilfe der Personen- und Ortsnamen aus Großbritannien nach Deutschland. Während in Samjatins Wir und Orwells 1984 nur ein Außenseiter in Konflikt mit dem System gerät, sind es bei Huxley im Jahre 632 nach Ford (2540 n. Chr.)  spielende Roman gleich drei. Der in einer Brutstation arbeitende und in seine Kollegin Lenina Crowe verliebte Bernhard Marx, der aus einem von der Außenwelt gänzlich abgeschlossenen Reservat (Motiv der Barriere) stammende unter primitivsten Verhältnissen aufgewachsene  John sowie der hochbegabte Michael Helmholtz, welcher zu Beginn nur mit Bernhard, später aber auch mit John befreundet ist. Keiner der drei Protagonisten vermag dem Leser als Identifikationsfigur zu dienen, zumal der Roman auktorial und aus verschiedensten Perspektiven erzählt wird, wodurch es Huxley übrigens gelingt, den Staat panoramaartig zu schildern. Während am Anfang Bernhard in seiner unglücklichen Liebe zu der wie alle anderen Menschen promiskuitiv lebenden Lenina und seiner Ablehnung der geltenden Normen noch als Sympathieträger gelten kann, offenbart er sich nach seiner Entdeckung Johns, aus dessen Person er gesellschaftliche Anerkennung zu schlagen hofft, als selbstsüchtiger Angeber und Feigling. Zeitweise bricht er sogar mit seinem Freund Michael, welcher nie so stark in den Mittelpunkt der Handlung rückt, dass er tatsächlich die Funktion einer Hauptfigur gewinnen könnte. John, dessen Mutter vor seiner Geburt im Reservat gestrandet ist und dem Zeit seines Lebens nur eine alte Gesamtausgabe der Werke Shakespeares (Motiv des Artefaktes) als Lektüre zu Verfügung  gestanden hat, ist zwar derjenige, der in der Anlage seines ‘edlen’ Charakters am deutlichsten den Leser gewinnen kann, allerdings wirken seine vornehmlich auf die Lektüre des Klassikers zurückgehenden Äußerungen in vielen Fällen geradezu grotesk.

Es ist hochinteressant, dass der von der Literaturwissenschaft als genrekonstituierendes Merkmal der Anti-Utopie favorisierte aus der totalitären Gesellschaft stammende Außenseiter, der beschließt, Widerstand zu üben und so in Konflikt mit dem System gerät, schon bei Huxley nicht ideal nachgewiesen werden kann; denn Bernhard fasst nicht den Beschluss, sich gegen die Ordnung zu stellen – es ist John, welcher aber überhaupt nicht Teil des Kollektivs ist, der zuletzt in einem Wutanfall die Somatabletten der Delta-Minus-Arbeiter aus dem Fenster wirft. Bernhard kann sich – im Unterschied zu Michael – aufgrund mangelnden Mutes gar nicht dazu durchringen, mit seinem Freund zusammen offen Position zu beziehen. Besonders gelungen, weil deprimierend, erscheint hier zudem, dass die Sicherheitskräfte des Staates die drei Helden vor dem aufgebrachten Pöbel retten müssen, bevor sie sie festnehmen und zum Enthüllungsgespräch mit dem (sehr verständnisvollen) Aufsichtsratsvorsitzenden Mustapha Mond bringen. Tatsächlich stellen die drei – zumal der Aufstand wenig geplant ist – keine übermäßige Gefahr für die Stabilität des totalitären Staates dar, welcher sich auf das Wesen seiner glücklichen Bürger verlassen kann. Der Leser kann so durchaus mit John mitfühlen, wenn er ironisch seinen veralteten Klassiker zitiert: Oh schöne neue Welt, die solche Bürger trägt! (William Shakespeare: Der Sturm).

Brave New World als Gesellschafts- und Wissenschaftkritik

Huxleys Roman kann nicht so einfach als Wissenschaftskritik verstanden werden. Zwar haben Forschungen Ergebnisse mit sich gebracht, die nach den Ausführungen Mustapha Monds in Folge eines verheerenden Krieges verwendet worden sind, um den Grundstein zum totalitären System des Weltstaates unter Aufsicht des Weltvorstandes zu legen, doch offenbart die von ihm eingestandene Zensur von Wissenschaft und Technik, dass bestimmte Forschungen aufgrund ihres Potentiales, Veränderungen herbeizuführen, eine Gefahr der versteinerten geschlossenen Gesellschaft darstellen – und somit geeignet sind, das System zu zerstören. Huxley kritisiert vielmehr als die Wissenschaft selbst gewisse zeitgenössische Erwartunghaltungen gegenüber bestimmten Bereichen bzw. Grenzbereichen derselben wie den Behaviorismus, den Taylorismus und Fordismus – die gemeinsam haben, den Menschen weitestgehend als Maschine zu betrachten oder ihn unter ökonomischen Gesichtspunkten zu entmenschlichen – und das ist auch das zentrale Thema des Romans:

“Warum haben die Schlote diese balkonartigen Dinger rundherum?, erkundigte sich Lenina. “Phosphorgewinnung”, erklärte Henry im Telegrammstil. “Auf dem Weg durch den Schornstein werden die Gase vier verschiedenen Verfahren unterzogen. Bei Leichenverbrennungen ging früher Phosphorpentoxyd dem Umlauf verloren. Heute werden mehr als 98% davon wiedergewonnen. Über anderthalb Kilogramm von jeder erwachsenen Leiche. Also nahezu 600 Tonnen Phosphor jährlich in Deutschland.

Von Taylorismus und Fordismus spricht heute kein Mensch mehr – obwohl die Frage, inwieweit der Mensch unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet werden darf, immer noch aktuell ist. Während die sich an den Theorien des Behaviorismus orientierende und zugleich vor diesen warnende Aufnormung in gewisser Hinsicht veraltet erscheint, ist das bei der Vorstellung, dass Menschen schon vor ihrer Geburt am Reißbrett entworfen werden können, nicht der Fall. Auch wenn heute nicht mehr wie im fiktiven Bokanovskyverfahren der Embryo mit Alkohol traktiert wird, ist durch die Gentechnik die Utopie eines perfekt an seine Umwelt und seine Aufgabe angepassten Menschen durchaus näher gerückt, als es zu Huxleys Zeiten überhaupt vorstellbar war. Nicht weniger aktuell scheint da die Kritik, die Huxley übt, an einer Spaß- und Konsumgesellschaft, die außer hedonistischen Neigungen keine ethischen Werte mehr kennt und die den geringsten Weg des Widerstandes geht: Hätte ich doch nur mein Soma dabei.

Schmunzeln im Angesicht des Schreckens

So deprimierend diese Welt auch sein mag, die Huxley in Brave New World entwirft, der Leser kann an vielen Stellen nicht anders, als zu schmunzeln – und das liegt nicht an der mangelnden Qualität des Werkes, sondern an den Stilmitteln der Parodie und der Satire, deren sich Huxley in viel stärkerem Maße als Orwell bedient (In 1984 bildet die Newspeak den parodierenden Kern). So lässt der Autor seine Figuren während einer religiösen Vereinigungszeremonie, die das christliche Abendmal ersetzt, sprechen:

Ford, wir sind zwölf, o mach uns eins/ Wie Tropfen im Gemeinschaftsquell/ Lass laufen uns im Strom des Seins/ Schnell wie dein 12 PS-Modell!

Elena Zeißler hat sicher recht, wenn sie mit Hans-Ulrich Seeber behauptet, dass diese stilistischen Unterschiede darauf zurückzuführen sind, dass Huxley es sich noch erlauben kann, seinen Weltstaat in eine sehr weite Zukunft zu rücken und dem Erzähler eine entspannte, satirische Haltung einzuräumen, während Winstons Leiden, Sehnsucht und Schmerz [...] eine eindringliche Atmosphäre der Bedrohung [kreiert] [Elena Zeißler: Dunkle Welten. Die Dystopie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert]. Die Atmosphäre von Brave New World ist eine andere als die von 1984. Die von den Figuren gebetsmühlenartig bei jedem möglichen Anlass von sich gegengebenen Aufnormungssequenzen, die ein sinnvolles Gespräch jenseits von Sport, Sex, Mode und Unterhaltung unmöglich machen, verfehlen nicht die Wirkung auf den Leser, der zusammen mit Bernhard und John einerseits deprimiert und andererseit wütend auf die Oberflächlichkeit und Borniertheit der Figuren ist, die hier entworfenen Menschen für ihren “Charakter” aber einfach nicht verantwortlich machen kann.

Fazit

Obwohl Huxleys Roman eine ganz andere Atmosphäre als der von Orwell evoziert – auch weil er mit ganz anderen Mitteln arbeitet -  gelingt es ihm wie diesem, den Leser in eine Welt der Zukunft mitzunehmen, die nachdenklich macht. Auch wenn die Huxley’sche in ihren satirischen und parodistischen Elementen zwar nicht ganz ernst zu nehmen ist, öffnet sie jedoch immer noch die Augen für gesellschaftliche Entwicklungen in der unsrigen. Gerade die Art, in der die Bürger des Ford’schen Weltstaates von den 12 kapitalistischen Machthabern manipuliert und entmenschlicht werden, macht diesen Roman zu einem wichtigen Klassiker des Genres, den man einfach gelesen haben muss!

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