Mary W. Shelley: Verney, der letzte Mensch

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Vom Anfang eines Genres: Mary Shelley Klassiker ‘Verney oder der letzte Mensch’

Eine Besprechung von Rob Randall

An die Autorin Mary W. Shelley erinnert sich die lesende Öffentlichkeit heute überwiegend nur noch aufgrund ihres Romanes Frankenstein. Doch neben diesem Werk, das von vielen als erster Science Fiction Roman überhaupt angesehen wird, hat die Autorin ein weiteres verfasst, das zumindest für die Literaturgeschichte von Bedeutung ist: Verney, der letzte Mensch. Erscheint die Apokalypse 1805 in Cousin de Granvilles Le dernier homme noch nicht vollständig säkularisiert, so präsentiert sie sich bei Shelley 1826 erstmals nicht als heilsbringende “Enthüllung” im Rahmen eines göttlichen Planes, sondern tatsächlich als literarische Erzählung vom Untergang der Menschheit. Damit stellt Verney, der letzte Mensch den ersten Roman des postapokalyptischen Genres überhaupt dar. Dass der Roman als in Deutschland weitgehend unbekannt bezeichnet werden muss, ist also nicht seiner fehlenden Bedeutung zuzuschreiben, sondern zum einen der zeitgenössischen Ablehnung des Werkes und zum anderen der auch hieraus resultierenden erst sehr späten deutschen Veröffentlichung im Jahre 1983 – allerdings dürften auch die spezifischen Qualitäten dieses dreibändigen Romanes aus dem 19. Jahrhunderts dafür verantwortlich sein, dass er so selten gelesen wird.

Prophezeiungen von Ende der Zeit

Um nachvollziehbar zu machen, wie es dazu kommen kann, dass die Aufzeichnungen des letzten Menschen auf den zeitgenössischen Leser gekommen sind, weist zu Beginn des Romanes die Herausgeberfiktion Verneys Autobiografie bzw. dessen Bericht von der Katastrophe, die als Pandemie daherkommt, als mysteriöse Funde aus der Höhle der Sibylle auf Sizilien aus. Insofern geriert sich der Roman letztendlich als eine möglicherweise zutreffende Prophezeiung über die kommende Endzeit aus dem Ende des 21. Jahrhunderts. Inspiriert dürfte die Autorin bei dieser phantastischen Vision aber das Wüten der Pest in Asien und Europa haben. Tatsächlich erreichte die Pest im Jahre 1831 auch London. Angesichts der Inhalte der ersten Hälfte des Werkes und der Verarbeitung tatsächlichen Geschehens überwiegt im Werk insgesamt der realististische Modus gegenüber dem phantastischen.

Inhalt

Das erste Buch schildert neben der Jugend Lionel Verneys, dem Sohn eines früh verstorbenen Lebemannes und bankrotten ehemaligen Vertrauten des englischen Königs, wie dieser nach seiner weitgehend verwilderten Jugend auf dem Lande Freundschaft mit Adrian, dem Sohn des ebenfalls schon verstorbenen englischen Königs und jetzigen Herzog von Windsor, schließt. Beide schließen einander ins Herz und Adrian eröffnet Verney den Zugang zu Bildung und Gesellschaft. Zudem verliebt sich Verneys Schwester Perdita in Adrian, der aber an die griechische Dame Evadne sein Herz verloren hat und angesichts seiner politischen Überzeugungen sowie des politischen Drucks auf seine Position verzichtet hat. Da Evadne allerdings den Kriegshelden des griechisch-türkischen Krieges und Machtpolitiker Lord Raymond begehrt, verliert Adrian zeitweilig den Verstand und lebt fernab seiner Freunde in der Obhut seiner Mutter. Diese verfolgt den Plan, ihre Tochter Idris mit dem ehrgeizigen Lord Raymond zu verheiraten, allerdings haben sich Verney und Adrians Schwester Idris in einander verliebt. Dieser Beziehung steht die ehemalige Königin, die ihre Nachkommen wieder an der Macht sehen will und zudem Lionel Verneys Vater gehasst hat, ablehnend gegenüber. Als sie Idris nach Östrreich bringen lassen will, entführt Verney seine Geliebte und kann sie endlich ehelichen, auch wenn Idris Mutter fortan jeden Kontakt mit ihr verweigert. Langsam genest auch Adrian wieder. Lord Raymond, der zuvor schon Perdita geheiratet hat und mit ihr eine Tochter, Clara, gezeugt hat, wird zum Lord Protector Englands gewählt. Angesichts seiner heimlichen Treffen mit der finanziell ruinierten Evadne, der er nach Jahren wiederbegegnet ist, verliert aber Perdita das Vertrauen in ihren Mann. Nach der darauf folgenden Trennung beteiligt sich Lord Raymond auf griechischer Seite wieder im griechisch-türkischen Krieg. Perdita, die Lord Raymond immer noch liebt, überredet ihren Bruder Lionel, sie nach Griechenland zu bringen, um Raymond zu finden.

Zu Beginn  des zweiten Buches findet Lionel Raymond, beide nehmen an der Eroberung Konstantinopels teil. Zuvor haben sie unter einigen Gefallenen auch Evadne gefunden, die vor ihrem Ableben allerdings Raymonds Tod prophezeit.  Diese Voraussage bewahrheitet sich: Bei dem Sturm im Alleingang auf das wegen der dort wütenden Pest weitgehend verlassene Konstantinopel kommt Raymond ums Leben, Lionel birgt seinen Körper aus den Ruinen der Stadt. Mit seiner Schwester kehrt er nach Großbritannien zurück. Die tödliche Seuche, vor der schon die Einwohner von Konstantinopel geflohen sind, entwickelt sich langsam zu einer Pandemie. Die englische Insel, die sich noch sicher glaubt, erreichen Nachrichten über Millionen Tote in Afrika und Amerika. Als die Seuche auch in England auftritt, übergibt der gewählte Lord Protector Ryland, der nur noch sein eigenes Leben retten will,  seinen Posten an Adrian. Dessen Versuche, der Pest Einhalt zu gebieten, sind fruchtlos. Mehrere Jahre lang sterben – vor allem im Sommer – die Menschen an der Krankheit. Erste Wanderungszüge setzen ein und bringen Probleme: Allerdings gelingt es Adrian zuletzt, die aus Amerika stammenden und erst in Irland, später in England plündernden Horden ohne umfassende militärische Konfrontation zu befrieden.

Das dritte Buch berichtet über die Umsetzung der Pläne der wenigen überlebenden Engländer, ihre Insel zu verlassen, um in klimatisch besser geeigneten Regionen zu siedeln. Nachdem Lionel Idris begraben und sich mit seiner Schwiegermutter versönt hat, verzögert nicht nur ein Sturm die geplante Überfahrt, sondern auch eine Flutwelle, die durch Kometen, die ins Meer stürzen, hervorgerufen wird. Beides wird als böses Omen interpretiert. In Frankreich angekommen, teilt sich die Gemeinschaft; in Paris kommt es zum Konflikt mit einem religiösen Führer, daraus gehen Adrian und Lionel aber siegreich hervor. Auf dem Weg durch die Schweiz sterben die restlichen Begleiter. Es überleben nur Adrian, Lionel sowie Clara und Evelyn, Lionel Verneys Sohn. Während dieser an Typhus in Italien stirbt, kommen Adrian und Clara bei einem Sturm auf See ums Leben. Lionel, der an die italienische Küste gespült wird, macht sich nach der Niederschrift der Ereignisse während eines einjährigen Aufenthaltes in Rom angesichts seiner Einsamkeit verzweifelt und wider besseres Wissen auf die Suche nach weiteren Überlebenden. Als letzter Mensch will er, begleitet von seinem Hund, die Küsten entlangsegeln.

Langatmige Liebeleien und politische Intrigen

Wer den ersten Band des Werkes liest, merkt bald: Shelley hat hier alles andere als einen reinen postapokalypstischen Roman verfasst. Nicht nur, dass das eigentliche Nachspiel am Ende der Zeit im Umfang weit hinter der Beschreibung der apokalyptischen Vorgänge zurücksteht, der Katastrophe vorgeschaltet wird sogar noch eine gefällige Mischung aus politischen Ränkespielen und komplizierten Liebesgeschichten, wobei hier auch Aspekte des zeitgenössischen Bildungsromanes enthalten sind. Mit diesen doch ermüdenden Ausführungen füllt die Autorin den gesamten ersten Band. Diese Anlage erklärt der Ich-Erzähler Verney auf der letzten Seite des Gesamtwerkes letztendlich mit dem Wunsch, seine ganze Lebensgeschichte zu Papier zu bringen – auch wenn er befürchtet, dass niemand sie mehr lesen wird. Doch für die komplizierten Beziehungen der Figuren gibt es noch eine andere Erklärung. Brian Aldiss führt dazu aus: Ein moderner Leser findet hier nur durch, wenn er sich vor Augen hält, dass Mary Porträts von Menschen, die sie kannte, zeichnete.* So trägt nicht nur die Figur von Adrian deutliche Züge von Shelleys Mann Percy, sondern hinter dem fiktiven Lord Raymond steht deutlich der vermutlich an Typhus verstorbene Lord Byron, Mary Shelleys Freund. Perdita ist Claire Claremont. Insofern muss man Verney, der letzte Mensch vor allem als Schlüsselroman lesen, in dem Shelley den Tod mehrerer geliebter Menschen und das Scheitern ihrer gemeinsamen idealistischen Vorstellungen verarbeitet, zumal sie sich in einem ihrer Tagebucheinträge jener Zeit selbst als den letzten Menschen bezeichnete. Insofern kann demjenigen, der den Roman heutzutage lesen – und genießen – will, nur geraten werden, sich schon im Vorfeld mit dem Leben der Autorin vertraut zu machen.

Die Negation der Utopien: Erst im Tode sind alle gleich

Shelley beschreibt mehrfach, wie sich die Armen im weitgehend entvölkerten England der Wohnsitze und des Reichtums der Eliten bemächtigen. Explizit führt der Ich-Erzähler aus, dass das Angebot der zurückgelassenen Güter die Nachfrage der wenigen Lebenden bei weitem übersteige. Das millionenfache Sterben ebnet hier die gesellschaftlichen Unterschiede bis zur Unerkenntlichkeit ein – und obwohl dem Adrian der Gemeinschaft der Engländer weiterhin voransteht, wird doch auch deutlich, dass sich im Wanderungszuge der wenigen Überlebenden soziale Wunschträume, wenn auch mit teilweise negativen Vorzeichen erfüllen. Olaf Briese stellt zu verschiedenen Untergangsszenarien des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts und der Tatsache, dass an ihrem Ende neue Gesellschaften stehen, fest:

Alle diese Apokalypsen arbeiteten daran, ihre naturalen Qualitäten auszuschalten – sie im Modus des Sozialen, der Politik zu annihilieren. Die Seuche unterlag grenzenlos menschlichem Zugriff. Der aufklärerische Traum vollstreckte sich symbolisch ausgerechnet an dem Trauma, das seine Realität so entschieden hatte zunichte werden lassen.**

Nun scheitern hier im Sterben der Beteiligten aber nicht nur die Reisepläne, sondern auch die utopische Koloniegründung des in höchstem Maße idealistischen Adrian. Insofern negiert die Shelley’sche Apokalypse alle utopischen aufklärerischen Zukunftsvorstellungen ihres ehemaligen Freundeskreises.

Erst in dieser Dimension der Verneinung wird die persönliche Verzweiflung der Autorin angesichts ihrer Verlassenheit deutlich. Shelleys Beschreibungen der mehrjährigen Apokalypse geraten dabei zwar durchaus eindrucksvoll, doch noch bei weitem nicht so grausam und furchterregend wie die aus Matthew P.Shiels Die purpurne Wolke, die sehr viel eindringlicher erscheinen – obwohl Shelley im Gegensatz zu Shiel das Sterben und den körperlichen Verfall der Figuren selbst en detail schildert, worin sie sich nicht nur als an den Naturwissenschaften Begeisterte zeigt, sondern auch als ein Mensch, der immer noch den Tod seiner Geliebten verarbeitet. Nimmt man beides zusammen, erscheint auch einsichtig, wieso die literarische Öffentlichkeit Shelleys Roman überwiegend ablehnte. Nicht nur, die genaue Beschreibung des körperlichen Verfalls dürfte schockiert haben, sondern zudem die Negierung jenes aufklärerischen Optimismus, der zu Beginn  des 19. Jahrhunderts alles möglich erscheinen ließ.

Was ist der Mensch?

Die Einsamkeit des letzten Menschen ist jedoch nicht nur der Urteilsspruch über die utopischen Wunschträume:

In its refusal to place humanity at the center of the universe, its questioning of our privileged position in relation to nature, then, The Last Man constitutes a profound and prophetic challenge to Western humanism.***

Die Verzweiflung des letzten Menschen angesichts seiner Verlassenheit offenbart sich vor allem auch in der antizipierten Nutzlosigkeit seines Tuns. Mehrfach reflektiert Verney über das Unglaubliche: Dass die Bäume weiterhin rauschen werden, wenn er, der letzte Mensch gegangen ist – und hinterfragt gleichzeitig den Sinn des menschlichen Daseins und dessen Bedeutung für die “Schöpfung”. Besonders eindrucksvoll wird dieses in einer der letzten Szenen des Romanes deutlich gemacht, als Verney glaubt, in einem Zimmer einen furchterregenden primitiven Menschen gefunden zu haben. Letztendlich erweist sich der Gegenüber jedoch als Spiegelbild. Die anschließenden Überlegungen, das eigene Äußere noch einmal auf das Niveau des Kulturmenschen zu bringen, bricht Verney jedoch ab: denn nur im Anderen erfüllt sich der Sinn der menschlichen Kultur und des menschlichen Daseins – also dem, dessen Shelley zum diesem Zeitpunkt ermangelte. Der Mensch, so kann man also feststellen, ist bei Shelley nur Mensch, wenn er eingebunden ist in eine menschliche Ordnung oder sich zumindest auf eine solche beziehen kann. Vielleicht ist das Ende auch so zu interpretieren, dass Verney, wenn er überhaupt Mensch bleiben will, weiterhin mit der Existenz anderer Menschen rechnen muss – auch wider besseren Wissens.

Fazit

Mary Shelleys dreibändiger Roman Verney, der letzte Mensch ist kein einfach zu lesendes Werk. Selbst in der wohl stark gekürzten – und gelungen wirkenden – Übersetzung von Ralph Tegtmeier muss sich der Leser durch einige Längen in der Handlung kämpfen, die vornehmlich im ersten Band zu finden sind. Im zweiten gewinnt die Handlung jedoch an Geschwindigkeit und wird zunehmend spannender. Hier beeindrucken die Schilderungen nicht nur sprachlich, sondern auch aufgrund der genauen Beobachtungen der Autorin. Dennoch lässt der berichtende Modus der Erzählung nur dort ein Eintauchen des heutigen Lesers in die Handlung zu, wo er zugunsten einer stärker szenisch orientierten Darstellungsweise aufgegeben wird. Das geschieht insgesamt leider zu selten. So viel Tiefe und literaturwissenschaftliche Bedeutsamkeit das Werk auch besitzen mag, kann man doch heute nicht umhin zu konstatieren, dass es tüchtig angestaubt wirkt.

2008 wurde der Roman übrigens unter dem Titel The Last Man verfilmt. Im englischen Orginal ist der Roman hier kostenlos und legal als Volltext zu finden.

* Brian Aldiss, David Wingrove, Der Millionen Jahre Traum, Bergisch Gladbach, S.77.

** Olaf Brise, Angst in den Zeiten der Cholera, Über kulturelle Ursprünge des Bakteriums [Habil.], Berlin, 2003, S.232.

*** Karrie E. Lokke, The Last Man, S. 116, in: Esther Shor [Hg.], The Cambridge Companion to Mary Shelley, Cambridge, 2003, S.116-134.