Unter anderen Vorzeichen: Leben in 1984
Sowjetische Anti-Utopien sind in der Welt der Dystopien durchaus etwas Besonderes; nicht weil die kritischen Autoren der U.D.S.S.R. auf dem klassischen Pfade Samjatins wandeln würden – sondern im Gegenteil: Weil sie im überwiegenden Maße gerade nicht das nachtun, was ihnen Wir, die erste “klassische” Anti-Utopie, nahelegt.
Der Grund hierfür liegt paradoxerweise vor allem in jener Erfahrung, welche die sowjetischen Autoren den meisten ihrer ausländischen Kollegen voraushaben – und um die man sie eigentlich nicht beneiden kann: Der Innenansicht eines totalitären Staates, der selbst in seiner poststalinistischen Ära noch jedem westlichen Demokraten 40 Jahre lang Schauer über den Rücken jagen konnte. Und wer schon einmal Solschenizyns Archipel GULAG gelesen hat, der weiß, dass die sowjetische Wirklichkeit in Groteske und Grausamkeit Orwells Visionen aus 1984 weit hinter sich gelassen hat. Dementsprechend verlegen sowjetische Autoren auch häufig nicht ihre anti-utopischen Gesellschaften als Warnung in eine nahe oder ferne Zukunft, sondern kritisieren das (zeitgenössische) Hier und Jetzt. Manchmal genügt der anti-utopische Literatur der Sowjetunion, die aufgrund der staatlichen Zensur entweder nur im Samizdat (d.h. der Untergrundliteratur) oder im Exil erscheinen konnte, dabei sogar ein weitgehend realistisches Erzählverfahren, um die Schrecken einer real-existierenden kommunistischen Utopie zu thematisieren. Auffällig häufig hingegen wird auf das Mittel der Satire oder Parodie und zurückgegriffen – Werke dieses Typs stehen, obwohl der staatliche Überbau der Sowjetunion eher an Orwells Visionen erinnert, dabei im erzähltechnischen Verfahren Huxleys Schöner Neuer Welt näher als dem von 1984.*
Staatskritische Romane als Dystopien
Stalin, welcher die Literatur als ideologisches Werkzeug zum human engineering begriff, verbot 1929 jegliche literarische Thematisierung von zukünftigen Gesellschaften (und damit auch die Science Fiction). Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen wurde unter dem Zeichen des sozialistischen Realismus sämtliche Literatur ideologisch vereinnahmt; zum anderen war die Literatur des Staates in ihrer Ausrichtung auf den Neuen Menschen und eine Neue Gesellschaft selbst utopisch. Erika Gottlieb weist hier richtig darauf hin, dass jedem Werk, welches sich der ideologischen Doktrin des Staates, seiner utopischen Vision und dem sozialistischen Realismus verweigerte, sofort eine anti-utopische Stoßrichtung erwächst.** So kann beispielsweise der literarischen Darstellung eines durch das System deformierten Sowjetmenschen in der Romanen eine anti-utopische Dimension zukommen: Nicht, weil damit gegen Shdanows 1936 geäußertes Diktum, die Literatur solle sich darauf beschränken, die herausragenden Qualitäten und Gefühle des Sowjetmenschen darzustellen, verstoßen wird – obwohl dieses der ebenso Fall ist – sondern weil damit auch, was im Einzelfall jeweils festzustellen wäre, das Zukunftsversprechen der sowjetischen Real-Utopie negiert wird.
Damit ergibt sich allerdings ein Problem: Es wäre wenig sinnvoll, jeden staatskritischen Roman als Anti-Utopie aufzufassen. Zudem verdammen auch die zensierten Autoren utopische Visionen häufig nicht in Gänze. Vielfach üben sie in höchst satirischer Form nur Kritik an konkreten Erscheinungen des sie umgebenden staatlichen Systems bzw. der sowjetischen Gesellschaft und lassen das bzw. ein utopische Versprechen gelten. Insofern scheint es auch problematisch, hier von Anti-Utopien im engeren Sinne zu sprechen, weswegen diese Texte von Edith Clowes beispielsweise “nur” als Meta-Utopien bezeichnet werden.*** Aus gleichem Grunde beschränkt sich Erika Gottlieb bei ihrer Untersuchung über die Unterschiede zwischen westlichen und östlichen Dystopien auf Romane, die sich auf den utopischen-antiutopischen Diskurs oder die Darstellung des politischen Systems der U.D.S.S.R als Albtraum konzentrieren.**** Vielleicht sollte man in einigen Fällen auch eher von Gegen-Utopien denn von Anti-Utopien sprechen.
Auswahl der Werke
Ob jeder einzelne der von mir für die Rezensionsserie sowjetischer Dystopien vorgesehenen Romane tatsächlich als Anti-Utopien betrachtet werden kann bzw. sollte, ist dementsprechend fraglich. Gefolgt wurde hier weitgehend Elena Zeißlers Auswahl für ihr Kapitel über die russischsprachige Dystopie. Darunter befinden sich sowohl Werke, die sich eines realistisches Erzählverfahren bedienen, als auch Werke, die dieses nicht tun. Es ist aber wohl jeweils im konkreten Einzelfall zu diskutieren, ob es sinnvoll ist, den Roman mit dem Etikett “Dystopie” bw. “Anti-Utopie” zu versehen. Häufig wird sicherlich die Bezeichnung “utopische Satire” treffender sein. Interessant dürfte die Lektüre dieser für die Genretheorie höchst problematischen Texte aber auf jeden Fall werden.