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Es liegt in unseren Händen: Rezension von Philip K. Dicks Die seltsame Welt des Mr. Jones
Eine Buchbesprechung von Stefan Cimander
Doug Cussick, Agent der Regierung, und seine Begegnung mit dem Hellseher Floyd Jones umspannen die Handlungsstränge des Buches. Der Roman beginnt und endet mit einer Biosphärenkuppel, allerdings als Inversion: Leben im ersten Kapitel genetisch-biologisch an die Venus angepasste Humanoiden in einer Kuppel auf der Erde, retten sich drei Menschen im letzten Kapitel unter eine Kuppel auf der Venus.
Die Herrschaft des Relativismus
Wie in vielen Science-Fiction-Romanen der 1950er Jahre nimmt Dick einen Dritten, atomar geführten Weltkrieg als Ausgang für die Etablierung einer Weltregierung. Die herrschende Ideologie ist eine an den Liberalismus angelehnte Form, die Dick als die Herrschaft des Relativismus beschreibt. Jeder kann denken (und sagen) was er will, solange er andere nicht zwingt das Gleiche zu glauben, bis dieses nicht schlüssig bewiesen ist. Extreme, Absolutismen und Dogmen haben in dieser Welt keinen Platz.
Dieses ethisch-philosophische Prinzip ist die unmittelbare Folge der Zerstörungskraft des vorangegangenen Krieges und der ihn auslösenden Ideologien. Toleranz ist das Leitprinzip der Gesellschaft. Der Relativismus erlaubt den legalen Konsum von Drogen und das Betrachten sexueller Shows – eine für die prüden 1950er Jahre unerhörte Vorstellung in den Vereinigten Staaten.
Cussick entdeckt um die Jahrtausendwende auf einem Jahrmarkt der Freaks Floyd Jones, der dort damit wirbt, genau ein Jahr in die Zukunft sehen zu können. Jones sagt Cussick die Ankunft einer außerirdischen, aber nicht intelligenten Lebensform, den Drifters, voraus. Der Geheimdienst sieht in Jones schnell eine Gefahr, da er gegen den Relativismus verstoße. Auch die Weltregierung weiß im Geheimen bereits um die Ankunft der Drifter in wenigen Monaten.
Die Drifter sind gallertige Protozoen, Keimzellen einer sporenbasierten, Wanderlebensform. Als die Drifter die Erde erreichen und in die Atmosphäre eintreten, sterben viele. Diejenigen, die nicht sterben, werden von den Jonesanhängern verbrannt. Jones ist inzwischen Anführer einer Bewegung, die sich gegen die Weltregierung, den Relativismus und die liberale Toleranzgesellschaft wendet. Geschickt benutzt er dazu die xenophobischen Vorurteile seiner Anhänger und seine hellseherischen Fähigkeiten. Trotz aller Versuche Jones aus dem Verkehr zu ziehen, sind die Aktionen des Geheimdienstes zum Scheitern verurteilt – denn Jones sagt immer die Wahrheit. Der Weltregierung entgleitet zunehmend die Kontrolle, bis Jones schließlich die Macht übernimmt und eine Art Diktatur errichtet. Er verfolgt alle, die ihm nicht bedingungslosen Gehorsam schenken und die nicht in seine Welt passen, wie die Rifter und die Mutanten. Cussick versucht ihn aufzuhalten, aber selbst dessen Frau hat mittlerweile ohne sein Wissen eine hochrangige Position in Jones Apparat inne.
Jones ist aber keineswegs unfehlbar, auch wenn er dies anders darstellt. Er kann die Zukunft zwar sehen, aber nicht verändern. Seine Handlungen sind ein Glücksspiel, dessen Konsequenzen er sich nur ein Jahr im Voraus gewahr ist. Die Vernichtung der Drifter führt zu einer vergeltenden, außerirdischen Quarantäne der menschlichen Spezies, die sich auf die näheren Sternensysteme erstreckt. Als Jones dies erkennt, weiß er um die Fragilität seiner Herrschaft und lässt sich von Cussick erschießen. Cussick, seine zu ihm zurückkehrte Frau und sein dreijähriger Sohn fliehen in das Habitat auf der Venus, um den Racheaktionen der Jonesanhänger zu entgehen.
Interessante dicksche Vision der Zukunft
Die Grundidee von Dicks Roman besticht durch mehrere, innovative und “kunterbunte” Konzepte. Dick beschreibt die genetische Manipulation von Lebensformen, um diese an die Umwelt anzupassen. Ein Problem, vor dem die interstellare Raumfahrt in der Zukunft stehen dürfte: Der Mensch muss die Umwelt an sich anpassen, um zu überleben. Dick invertiert dieses Prinzip, indem er das All mit an die jeweilige Umwelt angepassten Menschen besiedeln will. Hellseherei, Mutanten und Raumflotten bevölkern diese Gedankenwelt zusätzlich.
Dick fragt in Die seltsame Welt des Mr. Jones nach dem Wesen von Vorbestimmung, freiem Willen und Determinismus [1]. Konstanten, die sich im Übrigen durch sein ganzes Werk ziehen. Allerdings sind die Zusammenhänge zwischen den drei Handlungssträngen: Venusbesiedlung, Jonesdiktatur und Drifter allenfalls lose. Seine Handlung ist wirr, weil sie zwischen verschiedenen Zeitebenen hin- und herwechselt. Dick gelingt es nicht alle seine Ideen erkennbar konsistent zu verknüpfen, obwohl sich der Text an sich recht flüssig lesen lässt.
Die deutsche Übersetzung Die seltsame Welt des Mr. Jones des englischen Originaltitels The World Jones Made will nicht so recht passen, im englischen Titel kommt die aktive Rolle, die Jones bei der Gestaltung der Welt spielt, eindeutig besser rüber. Wobei diese aktive Rolle diffus ist.
Jones ist “Vollstrecker seiner eigenen Biographie” [2], er macht in der Gegenwart das, was er in der Zukunft gesehen hat, was er tut. Die Gegenwart ist seine Vergangenheit. Einen freien Willen und Schicksal besitzt er in diesem Sinne nicht. Anders formuliert, er ist “Sklave seiner Hellsicht” [3].
Die Ziele von Jones bleiben dennoch unklar. Er lässt sich von seinen Visionen treiben, bis er erkennt, am Scheidepunkt angekommen zu sein, an dem es für ihn ungemütlich werden könnte. Die Mechanismen einer Herrschaft finden keine genauere Darstellung und scheint auf purer Akklamation und „Führerkult“ zu basieren.
Weshalb Jones die Welt nicht verändern kann, die Geschichte also deterministisch ist, bleibt ungeklärt. Aber vielleicht ist genau dieser Determinismus die dicksche Befürchtung einer sich immer wiederholenden Geschichte. Deutlich zeigt die Beschreibung der Jonesbewegung Anleihen an der nationalsozialistischen Bewegung bzw. dem Klukluxklan. Pogrome und Xenophobie stehen beispielhaft für die Probleme der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.
Gleichzeitig ist Dicks Buch ein Plädoyer für das Leben. Jedes Lebewesen hat seine Berechtigung, so unterschiedlich und andersartig es auch sein mag. Die Vielfalt macht die Welt erst zu dem, was sie ist. Der Relativismus hat Parallelen zu typisch amerikanischen Werten, wie (Meinungs-)Freiheit und Gleichheit sowie Individualismus. Dick wendet sich gegen jede Form des Dogmatismus und Ideologie, weil er darin den Keim einer jeden Diktatur sieht.
Interessant ist die Rolle der Mutanten auf der Venus, die, auf dem Nachbarplaneten angekommen, zum ersten Mal in Ihrem Leben frei sind. Darin lässt sich die Forderung nach Gleichberechtigung und Freiheit aller Rassen ablesen. Jeder sollte das tun dürfen, wozu es ihm beliebt, solange andere keinen Schaden davon tragen. Übrigens eine in neuer Zeit als libertär eingestufte, politische Forderung.
Fazit
Für Dick ist Science-Fiction, wie für andere Autoren auch, ein Medium der Kritik. Mit dem McCarthyismus herrschte in den USA zeitweise eine zur Konformität und Entindividualisierung des Denkens zwingende Doktrin vor, gegen die Dick anschrieb, und in dessen Absolutismus er womöglich den Anfang einer neuen Diktatur sah.