Scott McBain: Der Mastercode

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Big Mother is analysing you – Rezension von Scott McBains Der Mastercode

Eine Buchbesprechung von Stefan Cimander

McBain-MAstercode

Was, wenn die Kontakte auf Facebook, der Tweet auf Twitter oder Tags in Geodatendiensten den Vertragsabschluss bei einem Telekommunikationsunternehmen, bei der Versicherung oder die Gewährung einer Ratenzahlung beeinflussen? Was wenn der Lebenslauf auf Xing, die Texte aus dem Weblog oder der Musikgeschmack auf den Scoringwert einwirken? Science-Fiction? Nein! Mitte 2012 wollten die Schufa, Deutschlands größte Wirtschaftsauskunftei, und das Hasso-Plattner-Institut der Universität Potsdam (HPI) in einem Grundlagenforschungsprojekt Vorschläge zur Nutzung von Daten aus sozialen Netzwerken und anderen Internetquellen entwickeln, um die Datenqualität des Bestandes zu erhöhen. Anhand dieser Daten prüft die Schufa die Kreditwürdigkeit der Verbraucher. Nach einem kurzen öffentlichen Aufschrei zog sich das HPI beleidigt aus dem Projekt zurück. Technisch machbar, ethisch nicht vertretbar, dennoch, das Fass ist offen. Gänzlich neu ist die Idee dabei nicht.

A wie Abgrenzt, Abgeschottet, Abgeschoben

Scott McBain, Pseudonym eines schottischen Schriftstellers, entwirft in seinem Buch Der Mastercodeeine Welt des Jahres 2020, in der Menschen in einer streng nach Kasten organisierten Weltgesellschaft nach ihrem ökonomischen Wert bemessen werden. Die Überwachung der Massen geschieht durch den Zwang zur Öffentlichkeit und finanziellem Druck. Alles, was von den Menschen getan, gesagt oder geschrieben wird, ist öffentlich und findet sich in den Datenbanken von „Mother“, einem globalen Datennetzwerk wieder.

>Mother“ ist aber mehr als nur eine Datenbank. Es ermöglicht eine nie dagewesene Vernetzung aller Kommunikations-, Bank- und Kreditkartendaten. Aus Bequemlichkeit (und Gier nach Rabatten) gaben die Menschen ihre Daten Preis. Ein Irisscan und die Welt steht jedem offen, ja wenn, wenn da nicht dieses Scoring wäre, das „Mother“ für jeden Erdbürger durchführt.

Anhand der gespeicherten Daten entscheidet das Netzwerk, in welcher Kaste ein jeder zugeteilt wird – und das schon nach der Geburt. DNA und soziales Umfeld bestimmen die Kaste und damit die Zukunft eines jeden. A1-A3 ist die völlig abgeschottete, in eigenen Städten lebende Oberklasse, A4-A6 ist der Normalbürger und A7-A9 ist der rechtlose Rest. Kontaktaufnahme ist über die drei Gruppen hinweg fast nicht möglich. Einziger Weg ist es, Gespiele oder Gespielin eines Mitglieds der obersten Kategorien zu werden – mit allen Konsequenzen. Die Schere zwischen Arm und Reich ist manifestiert, überall herrschen Korruption und nackte Geldgier, finanzielle Apartheid prägt das Leben. Die Schicht entscheidet, was man tun, was man benutzen darf und was nicht. Wer nicht in „Mother“ gespeichert ist, existiert nicht oder wird zwangsrekrutiert. „Mother“ entscheidet über Leben und Tod, darüber ob Menschen Zwangsorganspender werden oder wer einen Staat als Regierungschef führt. Völlig widerstandslos sind die Menschen aber nicht, insbesondere die, die von „Mother“ aussortiert wurden, begehren auf und kämpfen gegen das System – und rufen dabei die Gegner der Demokratie auf den Plan.

Der Herr über die Daten ist Herr der Welt

Eine Verschwörergruppe, angeführt vom britischen Außenminister Anthony Stone und CIA-Chef Dough Sullivan, will die Kontrolle über „Mother“ und damit über die Welt an sich reißen. Lars Pedersen, Vorsitzender des Rats von „Mother“, einem Kontrollgremium, hat diese Gefahr lange zuvor erkannt und in der Abschaltung von „Mother“ die einzige Lösung gesehen, die Verschwörer zu stoppen. Er selbst ist inzwischen von Krankheit schwer gezeichnet und sein Tod bedeutet das Ende des Status quo. Nur drei Menschen können durch Eingabe eines speziellen Codes „Mother“ deaktivieren: Die amerikanische Präsidentin, der britische Premierminister und die Gespielin Pia, die von ihrer Rolle in dieser Verschwörung zunächst nichts weiß. Petersen schleust Pia ins Umfeld des reichsten Mannes der Welt, Oswald Plevy, dem ursprünglichen Entwickler von „Mother“, um ihm zu signalisieren, dass die Welt am Abgrund steht. Plevy integrierte damals eine Art Versicherung, eine Backdoor, einen Mastercode, mit der er „Mother“ ausschalten kann. Diesen will Pedersen nun aktivieren (lassen), um die Demokratie aus den Händen der Verschwörer zu retten.

Was ist privat, was öffentlich?

Einer der grundlegenden Konflikte der “Generation Internet” ist die Frage nach dem Wesen der Privatheit. Was ist öffentlich, was ist privat? Welche Daten dürfen kommerziell verwertet, welche Daten müssen vor Zugriff geschützt werden? Was geschieht mit den Bewegungs- und Verkehrsdaten, die wir mit Handys millionenfach produzieren und die gespeichert werden? Passagierdaten, Kontodaten, Mautdaten, … wir produzieren Daten, die Begehrlichkeiten für die kommerzielle Auswertung wecken. Was wäre, wenn dies alles öffentlich wäre? Wenn der Zwang zum Öffentlichen das Recht auf das Private ausschaltet? Wenn alle diese Daten ausgewertet werden?

Fortsetzung Orwells mit modernen Mitteln

McBain greift den orwellschen Ansatz der totalen Kontrolle der Bürger auf und überführt ihn in die heutige Zeit. Anders als Orwells „Big Brother“, der Ausdruck staatlicher Unterdrückung ist, ist „Big Mother“ der Ausdruck libertärer, kapitalistischer Repression, Ausdruck eines neoliberalen Technikdeterminismus. Waren Orwell leistungsfähige Computernetzwerke fremd, transportiert McBain den orwellschen Überwachungsgedanken in die Gegenwart mit ihren technologischen Möglichkeiten. Aus dem „Big brother is watching you“ wird „Big mother is analyzing you“. Informationelle Selbstbestimmung, wie wir es in Deutschland nennen würden, existiert nicht mehr. Aus dem freiwilligen „Opt-in“ zur Datennutzung und –speicherung ist ein „Opt-out“ geworden.

Reale Vorbilder

Sind wir doch mal ehrlich, so fremd, ist uns McBains Ansatz überhaupt nicht. Der erste Gedanke nach dem Lesen von Der Mastercode war Google. Und in der Tat gibt es Analogien zwischen dem 2005 publizierten Roman und dem Geschäftsgebaren des Konzerns aus Mountain View. Einfache Suche, kostenlose Anwendungen, unkomplizierte Verwaltung von Informationen, der Preis: die eigenen Daten und steigende Abhängigkeit. Jeder nutzt es, keiner kommt mehr ohne aus. Das Sammeln, Aggregieren und Auswerten von Daten ist das Thema von Der Mastercode.

Status als Potenzinformation

Und noch einen zweiten Aspekt greift McBain auf, die Menschenkategorisierung nach ökonomisch-monetärer Potenz. Geschieht dies im Falle von Google und Facebook zum Zwecke der milieuspezifischen Werbung, nutzen Dienstleister, wie in Deutschland die Schufa, diese Daten zur Bewertung der Ausfallsicherheit von Zahlungen. McBain treibt dieses Gebaren mit „Mother“ auf die durchaus realistische Spitze und kombiniert diese Interpolation mit in der Gegenwart bereits dominanten gesellschaftlichen Veränderungen:

  • Wer arm ist, bleibt arm ohne Chance auf Statusänderung.
  • Wer arm ist, darf oder kann bestimmte Infrastrukturen nicht nutzen.
  • Wer reich ist, schottet sich ab. Gated Communities gehören in den USA zum Stadtbild.
  • Medial provozierte Schönheitsoperationen schon in jungen Jahren kommen in Mode.
  • Arme erfahren weniger Hilfe durch staatliche Einrichtungen, wenn ihnen Unrecht widerfährt.
  • Illegaler Organhandel, mit den Organen der Armen, ist in einigen Ländern an der Tagesordnung.
  • Die Angaben in einer Datenbank werden für gottgleiche Information gehalten. Verwechslungen können ganze Biografien zerstören und Bürger zweiter Klasse produzieren.
  • (Super-)Reiche legen bisweilen ein dekadentes Leben an den Tag.
  • Die Menschen sind egoistischer, der Homo oeconomicus dominiert das Verhalten.

Schwächen des Buches

Der Mastercode ist spannend geschrieben und liest sich sehr flott. Dies ist dem Verzicht auf delikate und diffizile Sprache zuzuschreiben. Daran kann, muss man sich aber nicht stören. McBain schreibt, auf seine spezielle Art äußert packend und leicht verständlich. Gerade diese sprachliche Trivialität erweitert aber den Leserkreis und transportiert die Problemstellung über das Bildungsbürgertum hinaus.

Trotz genialer Grundidee hat Der Mastercode einige, bisweilen nervende Schwächen. Die Charaktere sind zu stereotyp gezeichnet und die Romanfiguren dürften inhaltlich durchaus tiefer beschrieben sein. Besonders störend sind die permanenten Wiederholungen, z.B. der Klasseneinteilung. Auch die Liebesgeschichte ist nicht konsequent in den Plot eingebaut und wirkt konstruiert.

Warum ausgerechnet nur der amerikanische Präsident und der britische Premierminister „Mother“ abschalten können, erschließt sich angesichts der schon 2005 sehr dominanten BRIC-Staaten nicht.

Fazit

Trotz aller Kritik, ungeachtet aller Anfeindungen, entgegen allen schriftstellerischen Schwächen ist Der Mastercode ein bewegendes und erschreckend realistisches Buch, das im Bücherregal neben dem „großen Bruder“ stehen sollte. Nach dem Lesen muss sich der Leser unbedingt Gedanken machen, was mit seinen Daten geschieht. Wer speichert was und wo? Wer wertet es aus? Was passiert mit den aggregierten Daten? Vielleicht sind es genau dieser hohe Level an Authentizität und die direkte Betroffenheit, die den Mastercode bei vielen Lesern durchfallen lässt. „Mother“ ist nicht so abstrakt, wie es den Anschein hat, wenn man sich das Schufa-Projekt, die Vorratsdatenspeicherung oder ACTA in Erinnerung ruft. Im Anschluss an die Lektüre von 1984 empfehle ich Der Mastercode, beide ergänzen sich bestens. Zum Nachtisch empfehle ich einen Beitrag aus der FAZ über die Konsequenzen der kommerziellen Datenaggregation.

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