© Die Rechte für das Cover liegen beim Verlag und beim Urheber
Wie die Sprache die Welt verändert(e): Rezension von Gerd Ruebenstrunks Das Wörterbuch des Viktor Vau
Eine Buchbesprechung von Stefan Cimander
Irgendwo vor der Küste des fiktiven afrikanischen Staates Dagombé stürzt ein nicht identifizierter Flugkörper ins Meer, der den Raumkapseln der bemannten Raumfahrt ähnelt. Allerdings kann das Raumschiff nicht von der Erde stammen, da kein Raketenstart stattgefunden hat. Als Wissenschaftler das funktionsunfähige Raumfahrzeug öffnen, finden Sie nichts als eine auf Papier geschriebene Botschaft in einer unbekannten Sprache. Ein internationales Expertengremium soll vor Ort herausfinden, was es mit der Kapsel und der Botschaft auf sich hat.
Einer der Wissenschaftler erkennt in den Schriftzeichen die von Professor Viktor Vau entwickelte „allumfassende Sprache“, die sich durch absolute Logik und totale Rationalität charakterisiert. Vaus Sprache ist in der Lage, die Welt exakt zu beschreiben, sie lässt keinen Platz mehr für Missverständnisse und Doppeldeutigkeiten – und damit für falsche Entscheidungen. Es gibt aber einen Haken: Vau hat seine Sprache nie veröffentlicht, sie ist in knappen Auszügen nur wenigen seiner Kollegen bekannt. Für Vau stellt sich die Frage, wie seine Sprache in die fremde Raumkapsel kommt?
Vau, ein Einzelgänger und Koryphäe auf dem Gebiet der Linguistik, dechiffriert die Botschaft, die eine Bedienungsanleitung ist, schließlich. Nachdem er die entschlüsselten Befehle umgesetzt hat, verlässt er fluchtartig und unter Umgehung staatlicher Überwachung Dagombé. Grund ist die Videoaufzeichnung, die er erblickte und die schlicht und einfach lautet: „Tötet Viktor Vau“.
Zurück in der Hauptstadt der Union, muss Vau sich vor den rivalisierenden Geheimdiensten verstecken. Er will um jeden Preis verhindern, dass die Geheimdienste hinter die Bedeutung der Botschaft kommen, fürchtet er doch um sein Leben. Neben ihm selbst gerät auch sein Notizbuch, in dem er die Ergebnisse seiner Arbeit, die Syntax und Vokabeln seiner Sprache niedergeschrieben hat, ins Visier der Geheimdienste – und anderer Subjekte. Auf seiner Flucht erhält Vau Unterstützung von dem anarchistischen Untergrundkämpfer Marek, dem mysteriösen Immigranten Enrico und seiner eben erst eingestellten Assistentin Astarte.
Vaus Sprache ist keinesfalls ein reines akademisches Produkt, denn er gebraucht sie erfolgreich zur Behandlung von Schizophreniepatienten. Dahinter steht die Frage nach der Kooperation und der Beeinflussung der gefühlsbetonten rechten und der rationalen linken Gehirnhälfte. Vaus Sprache hilft den beiden Gehirnhälften, miteinander verständlich zu kommunizieren.
Der geografisch nicht verortete Staat der Zukunft, der nur als Union auftritt, ist ein oligarchisch geführter Überwachungsstaat, der von rivalisierenden Industriekonglomeraten, beherrscht wird. Demokratie ist nur mehr eine Hülle für eine teilnahmslos wirkende Bevölkerung. Die Einwohner der Hauptstadt werden neben Terroranschlägen auch durch die Serienmorde des „Floristen“ in Atem gehalten.
Sprache als Waffe
Mit „Am Anfang war das Wort“ beginnt das Johannesevangelium und bringt damit zum Ausdruck, dass Worte und Sprache erst das Erschaffen, was wir sehen, erkennen und wissen. Um die „Macht der Worte“ oder die „Macht der Sprache“ dreht sich Gerd Ruebenstrunks Das Wörterbuch des Viktor Vau.
Sprache ist eine Waffe: Sie verletzt, sie zerstört, sie schafft Feinde, sie gibt aber auch Hoffnung, sie eint und sie motiviert. Wer die Kontrolle über die Bedeutung und die Deutungshoheit der Worte sowie über den Aufbau der Sprache besitzt, entscheidet über Kreativität, Friedlichkeit und Meinungsvielfalt. Sprache ist das zentrale Medium zum Teilen von Wissen. Wer bestimmt, was Worte bedeuten, bestimmt, was die Leute wissen. Im Sinne des orwellschen Neusprech ist Vaus Sprache ein Instrument der Unterdrückung, weil es keine Interpretationsmöglichkeiten mehr gibt. Sprache ist Herrschaft und Ruebenstrunk füllt den Spruch „Die Macht der Sprache“ in seinem Buch mit Inhalt.
Ruebenstrunk sticht mit seinem Buch aus der Masse heraus, weil er verschiedene Bereiche und Genres (Philosophie, Linguistik, Anthropologie, Zeitreisen, Überwachung, Agententhriller, Wissenschaftsroman) verbindet und ein Thema aufgreift, das mehr metaphysisch-philosophisch als technisch-rationalistisch ist. Statt reiner Gesellschaftskritik bietet Ruebenstrunk eine Erklärung der Mechanismen der Unterdrückung bzw. dessen, was wir durch Denken (geworden) sind. „Ich denke, also bin ich“ ist nur durch die Sprache möglich. In der Zukunft raubt eben diese perfekte Sprache jede Kreativität und Gefühlsregung, gegen die sich die Menschen mit Terror und Zeitreisen wehren.
Eine in hohem Maße technisierte Zukunft (und auch die Technik der Zeitreisen) spielen in Das Wörterbuch des Viktor Vau keine Rolle, und das ist auch gut so, denn im Vordergrund steht die Sprache, die Linguistik, und ihr Potenzial, Menschen zu kontrollieren. Allerdings muten die wenigen Aussagen zur Technik bereits gegenwärtig anachronistisch an, sodass ein vollständiger Verzicht auf Konkretisierungen besser wäre, um nicht das Bild einer technisch zurückgefallenen Welt zu zeichnen.
Zahlreiche Handlungsfäden
Zu Beginn verwirren die verschiedenen Erzählstränge zunächst, die, auch wenn der Leser das am Anfang nicht weiß, auf verschiedenen Zeitebenen spielen und am Ende zusammenfinden. Die Rolle des Protektors, dessen Erlebnisse zwischen den Kapiteln als Logbuch auftauchen, bleibt bis zum Beginn des letzten Drittels des Buchs mysteriös, findet dann aber eine überraschende Auflösung. Die Charaktere lassen sich dabei niemals einem eindeutigen Gut-böse-Schema zuordnen. Die jeweiligen Absichten und Zusammenhänge bleiben bis zum Schluss verborgen. Allerdings löst Ruebenstrunk die Erzählstränge am Schluss partiell unbefriedigend auf. Die Enttarnung von Enrico und Astarte als aus der Zukunft stammende Agenten bleibt ein wenig schleierhaft, auch weil sich deren Handeln nicht in ihren Handlungen zeigt. Dagegen will das Geschehen rund um den „Floristen“ nicht so recht ins Buch passen, auch wenn es einen losen Zusammenhang zu Vaus Sprache gibt.
Die anthropologische Rolle der Sprache für die Entwicklung der Menschheit, die Bedeutung der Ursprache und der Zusammenhang mit der Rolle der dominanten Gehirnhälften dürfte ausführlicher sein. Der eine oder andere (existenz-)philosophische Exkurs und der Ausbau des Konnexes von Historie und Gehirnhälftendominanz wären dem Verlauf der Story nicht abträglich gewesen. Die Rolle der von Vau entdeckten Weltursprache kommt in diesem Kontext einfach zu kurz und wirkt losgelöst vom Rest.
Ein aktueller Roman
Das Wörterbuch des Viktor Vau ist Ruebenstrunks erster Roman für Erwachsene. An einigen Stellen ist das zu bemerken, insbesondere was die Art der Sprache oder die (wissenschaftliche) Erzähltiefe betrifft. Trotzdem gelingt es Ruebenstrunk mit seiner Dystopie ein attraktives Thema aufzugreifen und in einem packenden, gut lesbaren und flüssigen Thriller zu verpacken. Ruebenstrunks Ansatz findet derzeit in der tagesaktuellen Presseberichterstattung mit der Entdeckung der europäischen Ursprache eine wissenschaftliche Untermauerung [1]. Ferner greift er Versatzstücke der Gegenwart auf und überführt sie in eine nicht weit entfernte Zukunft, so z.B. staatlich unterstützter Terrorismus um politischer Ziele willen, Politikverdrossenheit, Macht der Medien und Ausbeutung der Menschen sowie staatliche Überwachung. Das Wörterbuch des Viktor Vau macht deutlich, was passieren kann, wenn der industriell-staatliche Komplex die Deutungshoheit über die Worte erhält, sich Überwachung und Kontrolle auch im Metaphysischen ausbreiten.
[1] Spiegel-Artikel zur eurasischen Ursprache
Habe die Seite gerade entdeckt und bin als Freund der dystopischen Literatur gespannt auf das Weitere. Es ist allerdings schon ein Kunststück, auf dieser Seite sechsmal den Titel des rezensierten Buchs falsch zu schreiben, obwohl ein Bild des Covers gezeigt wird: Es heißt “Wörterbuch”, nicht “Tagebuch”.
Jepp! Das hat der Redakteur – also moi – wohl tüchtig vermasselt. Da trifft den Autoren keine Schuld. Wahrscheinlich war ich noch voll im Tagebuch-der-Apokalypse-Modus. Danke für den Hinweis und willkommen auf DystopischeLiteratur.
peinlichpeinlich