Das Motiv des Streitgespräches
Motive dystopischer Romane V
Festgestellt werden kann, dass die dialogische Form der klassischen Utopie, die dort im Mentorengespräch ihren Niederschlag findet, auch ein strukturelles Merkmal der klassischen Anti-Utopie darstellt: Die Konsistenz des fiktiven Unterdrückungsstaates offenbart sich dem Orwells 1984 und Huxleys Brave New World damit von Anfang an im Gespräch der Figuren untereinander.
Tatsächlich läuft auch aber die Gesamthandlung der anti-utopischen Romane selbst seit Samjatins Wir strukturell auf ein zentrales Gespräch hinaus, das in den meisten Fällen die Form eines Streit- oder Enthüllungsgespräches annimmt. Dieses bildet dementsprechend auch den Klimax der Gesamthandlung, an dem die Außenseiterfigur(en) als Protagonist(en) und der Gegenspieler aufeinandertreffen. Üblicherweise lässt sich dieser Disput, in dem der nicht normkonforme Hauptfigur von einem Repäsentanten des Systems die Geheimnisse des Staates, die Grundlagen seiner Ordnung und die wahren Ziele der Mächtigen offenbart werden, im letzten der drei Teile der klassischen Anti-Utopie finden.
Bei der Gestaltung des Streitgespräches wurden jene frühen Autorem, deren Ziel die Kritik totalitärer Strukturen war, von der Legende des Großinquisitors aus Dostojevskijs Die Gebrüder Karamasov beeinflusst [Stephan Meyer: Die anti-utopische Traditon. Eine ideen- und problemgeschichtliche Darstellung, Frankfurt am Main, 2001, S. 120]. Nicht nur dass der russische Autor hier im Gespräch des Großinquisitors mit dem zurückgekehrten Jesus einen repräsentativen Vertreter des Systems seine Karten offenlegen lässt, die hier vom Autor implizierte Kritik an der katholischen Kirche unterstellt letzterer sogar – wie man erst später sagen würde – totalitäre Züge.
Die Ähnlichkeiten zwischen den Äußerungen des Großinquisitors und denen des Wohltäters aus Samjatins Wir sowie Mustapha Monds aus Huxleys Brave New World sind dabei frappierend:
Dann werden wir den Menschen ein stilles, friedliches Glück gewähren [...] Wir werden ihnen beweisen, daß sie nur schwache, armselige Kinder sind, daß aber das Glück von Kindern süßer ist als jedes andere. Sie werden eingeschüchtert zu uns aufblicken und sich ängstlich an uns drücken – wie die Kücken an die Henne. Sie werden uns anstaunen und fürchten und stolz sein, daß unsere Macht und Klugheit uns befähigt hat, so eine störrische Herde von tausend Millionen zu zähmen. Sie werden kraftlos zittern vor unserem Zorn, ihr Geist wird verzagen, ihre Augen werden dem Weinen nahe sein wie die von Kindern und Frauen – doch ebenso leicht werden sie auch auf unseren Wink zu Fröhlichkeit und Gelächter, zu heller Freude und glückseligen Kinderliedchen übergehen.
Wäre da nicht das verräterische Tempus fiele es ohne genaue Kenntnis der Quelle wohl sehr schwer zu entscheiden, ob hier der zukünftige kirchliche Weltstaat des Großinquisitors beschrieben wird oder ob einer der beiden Repräsentanten von Huxley und Samjatin den Kern ihres kommunistischen bzw. kapitalistischen Kollektivstaates erklärt. Dieses liegt nicht zuletzt daran, dass hier das erste Mal die für die Anti-Utopie so zentrale Dichotomie von Glück und Freiheit formuliert wird [siehe hierzu: Robert C. Elliot. The Shape of Utopia. Studies in a literary Genre, Chicago, London.].
Wie wirkungsmächtig das letztlich auf Dostojevskskji zurückgehende gattungsspezifische Merkmal geworden ist, zeigt sich auch daran, dass nicht nur moderne Anti-Utopien nach klassischen Schema wie P. D. James Im Land der leeren Häuser sich dessen noch bedienen, sondern das selbst Werke des Science Fiction, die wie Stanislav Lems Der futurologische Kongress nahezu fast alle Grenzen des Genres sprengen, selten auf den diesen Disput verzichten.