Definition(en) der Begriffe Anti-Utopie und Dystopie

Definiton der Begriffe ‘Anti-Utopie’ und ‘Dystopie’

1. Was ist eine Dystopie? Eine Einleitung

Die Definition der Begriffe Anti-Utopie bzw. Dystopie ist höchst umstritten. Deshalb fällt die Beantwortung der Frage “Was ist eine Dystopie?” (bzw. “Was ist eine Anti-Utopie”) auch nicht leicht. Eine umfassende Darstellung der zahlreichen unterschiedlichen Definitionen würde den Rahmen dieser Darstellung gänzlich sprengen [01]. Deutlich wird dieses schon an den unterschiedlichen Begrifflichkeiten, mit denen in der wissenschaftlichen Literatur gearbeitet wird:

Evolutionistische Utopie (Tuzinski), Mätopie (Huntemann), Schreckutopie und Groteskutopie (Borinski), Kakotopie (Burgess), Negative Utopie (Broich), Inverted Utopia und reverse Utopia (Walsh), False Utopia (Ross), pessimistische Utopie (Mauthe), Schreckbilder (Hohoff), Gegenutopie (Seeber), negative utopia (Rey), apotropäische Utopie (Hönig), anti-technische Utopie (Sühnel), Schwarze Utopie (Saage), Anti-Utopie (unter anderen: Meyer) sowie endlich Dystopie (Patrick)

Ferner wird eine einfache Definition der Begriffe Dystopie bzw. Anti-Utopie (auf die sich hier konzentriert wird, weil sie verbreiteter als die übrigen scheinen) dadurch erschwert, dass sich hinter den Begrifflichkeiten der unvollständigen Aufzählung nicht nur eine jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzung hinsichtlich der gattungsspezifischen Merkmale verbirgt, sondern je nach Untersuchung auch gattungsinterne Differenzierungsversuche. Aber dazu später.

2. Die Funktion von Dystopie und Anti-Utopie

Innerhalb der Literaturwissenschaft fand der Begriff der Dystopie das erste Mal 1952 Verwendung. So stellen Negley und Patrick in ihrer Anthologie Quest for Utopia in Bezug auf Joseph Halls 1605 erschienenes Werk fest: The Mundus Alter et Idem is utopia in the sense of nowhere; but it is the opposite of eutopia, the ideal society: it is a dystopia, if it is permissible to coin a word [2]. Die Schrift Halls veranlasste die beiden Wissenschaftler zu ihrer Aussage, weil sie einerseits zwar den  Merkmalen der Utopie folgt, die geschilderten Gesellschaften jedoch nicht für den damaligen Leser erstrebenswerte darstellen. Dystopie meint hier also ein literarisches Werk, das dem Genre der Utopie zuzurechnen ist, aber eben einen durch und durch “schlechten” Ort zeichnet. Heute neigt die Forschung jedoch dazu, Mundus et alter idem als utopische Satire zu bezeichnen – womit aber eben auch ein wichtiges Merkmal aller Utopien berührt ist [3].

Utopische Satiren kennt das Abendland spätestens seit Aristophanes, der sich mit seinen Werken gegen bestimmte vorherrschende (utopische) Idealvorstellungen von Staaten wandte [4] – damit wird auch schon deutlich, dass selbst wenn Aristophanes utopische Vorstellungen nicht per se abgelehnt haben sollte, die Stoßrichtung seiner Komödien in engerem Sinne des Wortes ‘anti-utopisch’ ist: denn sie ist gegen konkrete politische und philosophische utopische Gesellschaftsentwürfe gerichtet. Neu ist später aber die jene Erscheinung den 19. Jahrhunderts, dass das Transportmittel anti-utopischer Kritik zunehmend die Gattung der Utopie selbst ist.

Damit sind nun auch schon mit Gesellschafts- und Utopiekritik die beiden generellen Funktionen jenes Genres  genannt worden, um das es hier gehen soll. Booker definiert die Dystopie als

…that literature which situates itself in direct opposition to utopian thought, warning against the potential negative consequence of arrant utopianism. At the same time, dystopian literature generally constitutes a critique of existing social conditions or political system, either through the critical examination of the utopian premise upon which those conditions and systems are based or through the imaginative extension of those conditions into different contexts that more clearly reveal their flaws and contradictions [5]

Im Folgenden kann nicht weiter darauf eingegangen werden, ob Booker mit seiner Definition, der ich hier nicht folge, Recht mit der Annahme hat, dass sich die anti-utopische Funktion der anti-utopischen Werke gegen utopisches Denken und Planen generell richte – selbst für Orwells 1984 kann solches bestritten werden. [6] Deutlich wird aber, dass mit Gesellschaftskritik und Utopie-Kritik zwei Seiten der negativen utopischen Entwürfe genannt sind. [7]

3. Differenzierungsversuche

Wenn dystopische Staatsentwürfe innerhalb utopische Werke generell zwei mögliche Funktionen zukommen, überrascht es nicht, dass die Versuche, das Genre anhand dieser weitergehend zu differenzieren, wenig praktikabel erscheinen. Elena Zeißler stellt richtig fest, dass die klassischen Dystopien… durchweg neben der Kritik an der Gesellschaft auch parodistische Elemente [enthalten], die sich meist gegen konkrete utopische Entwürfe richten. [8] Andere Literaturwissenschaftler haben sich aber an eine solche definitorische Unterscheidung herangewagt. Lyman Tower Sargent definiert beispielsweise zwei Genres und grenzt sie folgendermaßen voneinander ab:

[A dystopia is] a non-existent society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporanous reader to view as considerably worse than the society in which that reader lived.

[An anti-utopia is ] a nonexistent society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporanerous reader to view as a criticism of utopianism or of some particular eutopia. [09]

Wie problematisch eine solcher Differenzierungsversuch ist, lässt sich am besten an einem Standardwerk des Genres zeigen. Wurde 1984 in den ersten Jahrzehnten vornehmlich als in jedem Sinne des Wortes anti-utopisches Werk verstanden, das die totalitären Potentiale der politischen Utopie des Komunismus aufzeigen will, so kann doch spätestens seit der ersten Biografie Orwells nicht übersehen werden, dass die Zeitkritik einen gewichtigen Anteil der Wirkungsabsicht des Romanes ausmacht. [10]

4. Eingrenzungsversuche

Um dem definitorischen Problem zu entkommen und zu einem sinnvollen Korpus für wissenschaftliche Untersuchungen zu gelangen, kann neben der Wortneuschöpfung grundsätzlich noch ein anderer Weg beschritten werden: Jener der systematischen Eingrenzung.

Meiner Ansicht nach erscheint es aber z.B. nicht sinnvoll mit Stephan Meyer, welcher den Begriff der Dystopie als generell ungeeignet ablehnt, das Genre des anti-utopischen Romanes auf nur jene Werke zu begrenzen, die eine Negation literarisch-utopischer Idealstaaten darstellen und in denen ein Totalitarismusverdacht gegen die klassische politische und literarische Utopie ausgesprochen wird [11]. Für Meyer ist die negative Utopie ausschließlich eine utopisch verkleidete Utopiekritik [...], die in narrativer-erzählerischer und satirischer Form die Realisation von utopischen Gedanken oder ihren inhaltlichen sowie formal-erzählerischen Strukturmerkmalen relativiert [12]. Beobachet werden kann nämlich dass die  dystopischen Gesellschaften der Romane des späten 20. Jahrhunderts in zunehmenden Maße weniger eine Antwort innerhalb des genreinternen Diskurses darstellen als vielmehr aufgrund von Extrapolationen zeitgenössischer Erscheinungen und Entwicklungen gewonnene Gesellschaftsentwürfe. Seeber resümiert zudem richtig in seinem Aufsatz Bemerkungen zum Begriff der Gegenutopie: Negativ ist zum Begriff der Anti-Utopie zu bemerken, dass unter ihm Werke subsumiert werden (z.B. Bradburys Fahrenheit 451), die sich gar nicht gegen identifizierbare Utopien richten [13] - und, so möchte man vorsichtshalber gleich hinzufügen, keine generelle Utopie-Kritik darstellen.

5. Was ist denn nun eine Dystopie bzw. Anti-Utopie?

Über einen Punkt ist man sich in der Forschung wohl relativ einig: Dystopien sind eine Unterkategorie der Utopie, wobei der Begriff hier jetzt nicht mehr nur auf die positiven Entwürfe, die auch Eutopien genannt werden, beschränkt ist. [14] Eutopien und Dystopien teilen sich somit als Unterarten die gemeinsamen Merkmale der Utopie und anhand dieser können Sie nicht nur als Utopien identifiziert, sondern auch als Dystopie bzw. Eutopie typologisiert – werden. Aber auch hier wurden unterschiedliche Ansätze und unterschiedliche Merkmalskataloge entwickelt, was sich schon daran zeigt, dass (unter anderem) einmal Halls Mudus et alter Idem (1605) [15], einmal Émile Souvestres Le Monde Tel Qu’il Sera (1845/1846) [16] und  – was am häufigsten anzutreffen ist - Samjatins Wir [17] als erstes Werk des Genres angenommen wird. So nimmt Schulte-Herbrüggen beispielsweise den politisch-sozialer Raum zum Ausgangspunkt, um anhand dessen angenommener Formprinzipien von Isolation, Selektion und Idealität die betreffenden Werke zu untersuchen und lehnt Samjatins Wir als ersten dystopischen Roman ab [18], woraufhin Stephan Meyer dem entgegenhält, dass ihm letzteres nur aufgrund seines stark reduzierten Konstituentenkataloges  [19] gelinge und führt einen eigenen an. Hier nennt er unter anderem folgende variable Merkmale von Anti-Utopien (und den meisten Eutopien!) [20]

  • Isolation
  • Autarkie
  • Statik
  • Manipulation des Geschichtsbildes
  • Kollektivismus aufgrund eines Gleichheitsideales
  • Unterdrückung abweichender Identität und Privatheit
  • Perfektionsideal
  • strikter Arbeitsethos
  • Abweisung jeden Lebensgenusses
  • Geometrische Stadtplanung
  • Uniformität
  • absolute staatliche Kontrolle von Liebesbeziehungen
  • absolute staatliche Kontrolle der Familie
  • antidemokratische Staatsführung
  • Elitenkonzept
  • ideologische Indoktrination
  • säkularisierte Ersatzreligion
  • Kunstfeindschaft
  • Propaganda
  • repressive Sprachpolitik
  • pseudodemokratische Legitimierung der Macht
  • ausgeklügelter Sanktionsapparat
  • Überwachung durch Geheimpolizei
  • Terror, Folter, Manipulation und Liquidierung Andersenkender

Weitergehend wird bei der Festlegung, welche Merkmale eine Dystopie aufweist, heute in den meisten Fällen von einer Untersuchung der drei als klassisch angesehenen Romanen Wir, 1984 und Brave New World ausgegangen,[21] da sie das Paradigma für die nachfolgenden Werke geliefert haben – nicht weil diese als erste en detail schreckliche utopische Staaten gezeichnet hätten, das haben schon viele Werke zuvor, sondern weil hier das erste Mal der Protagonist zwar Außenseiter, aber nicht Außenstehender ist: Der Protagonist entstammt also dem jeweiligen Gesellschaftssystem. Dieser Aspekt wird von vielen Literaturwissenschaftlern zum genrekonstituierenden Merkmal erhoben. [22] Erst hieraus ensteht in einer Annäherung an die Textsorte des Romanes der für die klassische Dystopie typische Konflikt zwischen individueller Freiheit und kollektivem Wohl – wobei letzteres nicht selten nur das vorgebliche Ziel des Staates ist. Erst die Einführung des Außenseiters ermöglichte es den klassischen Autoren nicht nur das totalitäre Potential utopischer Entwürfe offenzulegen, sondern auch anhand des exemplarischen Beispieles eines leidenden Menschen die Folgen gesellschaftlicher (Fehl-)Entwicklungen dem Leser aufzuzeigen.

[01] Eine außerordentlich detaillierte Übersicht findet sich in der äußerst lesenswerten Dissertation von Stephan Meyer: Die anti-utopische Tradition, Frankfurt am Main, 2001.
[02] Negley, Patrick, Quest for Utopia, 1952, 298.
[03]
[04]
[05] M. K. Booker, Dystopian Literature. A Research Guide, 1994, S. 3.
[03] Elena Zeißler: Dunkle Welten. Die Dystopie auf dem Weg in 21. Jahrhundert, Marburg, 2008, S. 17.
[09] Lyman Tower Sargent, Three Faces of Utopianism Revisited, 1994, S. 9-11.
[10] Hans Ulrich Seeber, Anmerkungen zum Begriff der Gegenutopie, in: Hans Ulrich Seeber, Die Selbstkritik der Utopie in der angloamerikanischen Literatur, Münster, 2003, S. 223-236, S.224.
[11] Stephan Meyer, Die anti-utopische Tradition, S. 32.
[12] Stephan Meyer, Die anti-utopische Tradition, S. 32.
[13] Hans Ulrich Seeber, Anmerkungen zum Begriff der Gegenutopie, in: Hans Ulrich Seeber, Die Selbstkritik der Utopie in der angloamerikanischen Literatur, Münster, 2003, S. 223-236, S.233.
[14] Anderslautende Ansichten sind mir bisher noch nicht begegnet.
[15]
[16] Matthias Hausmann, Die Ausbildung der Anti-Utopie im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Heidelberg, 2009.
[17] Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt, 1991, S. 265.
[18] Siehe: Hubertus Schulte-Herbrüggen, Utopie und Anti-Utopie.
[19] Stephan Meyer, Die anti-utopische Tradition, S. 32.
[20]Stephan Meyer, Die anti-utopische Tradition, S. 35-36.
[21] Die Zahl der Untersuchungen ist Legion. Als eines der Beispiele kann gelten: Richard Saage, Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt, 1991.
[22] Hartmut Weber, Die Außenseiter im anti-utopsischen Roman, Frankfurt am Main, 1979.

Schon 2 Kommentare zu: Definition(en) der Begriffe Anti-Utopie und Dystopie

  1. Was ist der deutsche Begriff für “speculative fiction”, ich meine die Dystopien, die Ereignisse in der Zukunft antiziperen?

    • Ich bin da kein Experte, aber ich glaube nicht, dass es einen deutschen Begriff für “speculative fiction” gibt. Diejenigen, die “Science Fiction” aufgrund der Genregrenzen nicht verwenden möchten, verwenden den englischen Begriff “speculative fiction”. Höchstens noch “Phantastik” – aber da fällt dann auch die Fantasy etc. mit hinein.

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