Das Motiv der Liebe
Motive dystopischer Romane III
Das Motiv der Liebe ist in den klassischen Dystopien von zentraler Bedeutung. Sowohl in Orwells 1984 als auch Samjatins Wir unterliegt die Beziehung zwischen Mann und Frau starken gesetzlichen Einschränkungen, welche die romantische Liebe kriminalisieren. Bei Samjatin bestimmt durch ein streng geregeltes Verfahren der Staat sowohl den Zeitpunkt der Begegnung als auch den Partner selbst.
Dementsprechend bedeutet die Aufnahme einer Liebesbeziehung gleichsam die Abkehr von der herrschenden Ideologie, welche persönliche Bindungen jenseits der institutionell kontrollierbaren zu verhindern versucht. Die hierdurch hervorgerufene Vereinsamung des Menschen ist es auch, die den Protagonisten in seinen Träumen so gerne in die Arme eines weiblichen Wesens fallen lässt, wobei die gespürte Kälte der Gesellschaft und die Hoffnung auf emotionale Wärme einander gegenüber stehen.
Sowohl in Samjatins Wir als auch in Orwells 1984 wirken die Empfindungen des Protagonisten für eine Frau – im ersten Fall I-330 und im letzteren Julia – als Katalysatoren für den Entfremdungsprozess zwischen Hauptfigur und herrschendem System. Während Winston Smith in 1984 aber aufgrund seiner Aufzeichnungen schon zuvor zum Außenseiter geworden zu sein scheint, beginnt Samjatin seinen Roman Wir mit der Begegnung zwischen I-330 und D-503. Letzterer scheint dementsprechend auch stärker mit der Situation überfordert zu sein als Winston Smith. Die Liebe, die ihn heimsucht, nötigt ihn geradezu, zum Gesetzesbrecher zu werden.
In Huxleys Brave New World hingegen sind die Figuren aufgrund ihrer fehlenden emotionalen Tiefe nicht mehr in der Lage, (monogame) Liebesbeziehungen einzugehen. Dementsprechend kann hier auch die rigorose Kontrolle durch den Staat entfallen, obwohl dieser Promiskuität programmatisch fördert.
Angemerkt sein auch, dass die in den klassischen Dystopien gefundene Kontrolle der Sexualität und Liebesbeziehungen nicht von den oben genannten Autoren in das utopische Genre eingeführt wurde, sondern sich schon in der ersten Utopie überhaupt – Platons Politeia - findet. So führt Platon dort zur Reproduktion der zweiten der drei Kasten der “idealen” Gesellschaft aus:
Es müssen ja nach dem Zugegebenen die besten Männer den besten Weibern möglichst oft beiwohnen, und die schlechtesten Männer den schlechtesten Weibern möglichst selten, und die Kinder der einen muß man aufziehen, die der andern aber nicht, wenn die Herde möglichst vorzüglich sein soll, und alles dies muß geschehen, ohne daß es jemand außer den Regierenden selbst bemerkt, wenn andererseits die Herde der Wächter möglichst frei von innerem Zwist sein soll… Es werden denn gewisse Feste vorzuschreiben sein, bei denen wir die Bräute und die Bräutigame zusammenbringen werden, und Opfer, und unsere Dichter werden für die Vermählungen passende Gesänge zu machen haben. Die Zahl der Vermählungen aber werden wir die Regierenden bestimmen lassen, damit sie möglichst die gleiche Zahl von Männern erhalten, indem sie auf Kriege und Krankheiten und alles Derartige Rücksicht nehmen, so daß uns der Staat womöglich weder zu groß noch zu klein werde [459 u. 460]
In den neueren dystopischen Jugendromanen wird das klassische Liebesmotiv häufig zur eigenständigen Nebenhandlung ausgebaut, wobei es manchmal, wie in Sara Grants Roman Neva, seine katalysatorische Funktion verliert oder den eigentlichen zentralen Konflikt zwischen Protagonist und Staat, wie in Kacvinskys Die Rebellion der Maddie Freeman in den Hintergrund zu drängen beginnt. Einher mit dieser spürbaren zielgruppenorientierten Popularisierung geht dabei eine Banalisierung des Genres, das nach der geglückten Verbindung von Science-Fiction- und Abenteuerroman nun mit dem Liebesroman eine Mesalliance eingeht.