Das Motiv des Artefaktes
Motive dystopischer Romane I
In weitgehend allen klassischen Dystopien spielt die Vergangenheit eine besondere Rolle. Betrachten die kollektivistischen bzw. totalitären Gesellschaften sich in den literarischen Werken üblicherweise selbst als einen fortschrittlichen Endpunkt der Geschichte, so wird die Vergangenheit entweder abgelehnt (Huxley: Brave New World), manipuliert (Orwell: 1984) oder ist einem Zugriff durch den zeitlichen Abstand (Samjatin: Wir) oder ein katastrophales Ereignis gesperrt (Georg Zauner: Die Enkel der Raketenbauer).
Die noch auffindbaren Artefakte, die Geschichtswisseschaft würde hier von den Quellen verschiedenster Art sprechen, welche dem sich gegen das System zu stellen beginnenden Protagonisten begegnen, werden von diesem über ihre eigentliche Bedeutung hinaus zum Zeugnis einer zwar vergangenen, aber vermeindlich besseren, Welt uminterpretiert. Als Kristallisationspunkte der wachsenden Sehnsucht des Ausbrechenden symbolisieren sie eine Gegenwelt, die in der Retrospektive des Werkes positiv besetzt wird – und nicht selten die Zeitschicht des Autors selbst entspricht (Orwell: 1984). Insofern kann das dystopische Genre durchaus als ein konservatives betrachtet werden.
Die Zeugnisse können vielfältig sein: In Orwells 1984 handelt es sich dabei zum einen um das Buch, in das Wiston Smith gesetzeswidrig seine Gedanken niederzuschreiben beginnt, und zum anderen um einen Briefbeschwerer, den er in einem alten Antiquitätengeschäft – in welchem er später sogar ein Zimmer mietet – kauft. In Samjatins Wir erscheint der Artefakt selbst als Durchang zur Welt der Vergangenheit bzw. der Freiheit, denn in dem uralten Haus, in dem er sich mit I-330 trifft, befindet sich ein Tunnel, durch den man die ummauerte Stadt verlassen kann (als Ort des geheimen Treffens ähneln sich das orwellsche Antiquitätengeschäft und das samjatinsche Haus zudem stark in ihrer Funktion als zeitweilige Rückzugsmöglichkeit vor der gegenwärtigen Welt zwecks Aufnahme von verbotenen Liebesbeziehungen).
Oft erscheint die Botschaft aus der Vergangenheit in irgendeiner Weise mit der Mutter des Protagonisten verknüpft zu sein. In John Christophers Jugendroman Die Wächter eröffnen die Briefe aus dem Nachlass dem jungen Protagonisten erst den Zugang zu einer möglichen alternativen Existenz, indem sie von der Überwindbarkeit der die Stadt umgebenden Mauer zeugen.
In den genannten Romanen haben die Artefakte dabei eines gemeinsam: Sie nehmen eine zentrale Bedeutung für den Fortgang der Handlung ein – sie sind also kein schmückendes Beiwerk, sondern tragen durch ihre fortdauernde Existenz einen maßgeblichen Teil zum Selbstfindungsprozess des Protagonisten bei.