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Rezension von Jack Londons Die eiserne Ferse
Eine Buchbesprechung von Rob Randall
Wenn sie ein Bild von der Zukunft haben wollen, so stellen sie sich einen Stiefel vor, der in ein Gesicht tritt. Immer wieder. Mit diesen wenigen Worten beschwört Orwell in 1984 eindrucksvoll das entsetzliche Bild eines verewigten totalitären Staates, der bis in alle Ewigkeit das Individuum und dessen längst verlorenen Freiheiten mit Füßen tritt – und deshalb sind diese zwei Sätze auch zurecht berühmt geworden. Übersehen wird dabei jedoch oft, dass Orwell in seiner klassisch gewordenen Anti-Utopie damit auch auf einen berühmten Vorläufer des Genres rekurriert, in welchem sich das allegorische Bild des Stiefels, der über die Menschen hinwegschreitet, wohl zum ersten Male als Symbol eines in in die Zukunft projezierten Unterdrückungsstaates finden lässt. Zudem kann Orwells Werk auch als eine Antwort auf diesen Vorgänger aufgefasst werden, denn der wie Orwell vom Sozialismus stark beeinflusste Jack London beschreibt in seinem dystopischen Roman Die eiserne Ferse (The Iron Heel) aus dem Jahre 1907 die Entstehung eines kapitalistischen Unrechtsstaates in den U.S.A. der 20er Jahre – allerdings besitzt dieser ein Verfallsdatum.
Der Inhalt
Der durch einen fiktiven Herausgeber aus dem 26. Jahrhundert als autobiografisches Manuskript der Widerstandskämpferin Avis Everhard ausgewiesene Text setzt im Jahre 1912 mit der ersten Begegnung der Ich-Erzählerin und ihrem späteren Mann Ernst Everhard ein. Obwohl sie als Angehörige der Oberschicht zuerst von seinem proletarischen Äußeren und seinen sozialistischen Überzeugungen abgestoßen ist, verliebt sie sich wenig später in diesen hochintelligenten und rednerisch überaus begabten Anführer einer Sozialistengruppe, der nicht nur im Hause ihres interessierten Vaters, sondern auch bei jeder anderen Gelegenheit seine auf dem wissenschaftlichen Sozialismus fußenden politischen Überzeugungen verkündet. Dabei geht er in seiner Analyse des Bestehenden und der Prognose des Kommenden nie fehl: Avis und Ernst müssen erleben, wie die allmächtigen Konzerne von einer weitgehend verborgenen Kontrolle der Medien sowie des religiösen, kulturellen und politischen Lebens innerhalb weniger Jahre zur offenen Unterdrückung der Arbeiter bzw. der Bekämpfung der sozialistischen Bewegung übergehen. Durch die Einflussnahme der wirtschaftlichen Eliten verlieren Avis und ihr Vater nicht nur ihre gesellschaftliche Stellung, sondern auch ihren Besitz, so dass sie unter ärmlichen Verhältnissen leben müssen. Die von ihren Gegnern Eiserne Ferse genannte Oligarchie gelingt mittels Spitzeltums, terroristischen Aktionen unter falscher Flagge und dem Einsatz der Streitkräfte mehrfach, entweder die von der Arbeiterbewegung geplanten Aufstände ins Leere laufen zu lassen oder niederzuschagen. Auch Ernst, der wider besseren Wissens versucht, über legale Wege – d.h. die Wahlen – eine Veränderung herbeizuführen, wird ein fingierter Anschlag bei einer seiner Reden im Kongress zur Last gelegt, weshalb er und seine Frau auch einige Monate in den Untergrund gehen müssen, bevor sie sich mit falschen Identitäten als Geheimagenten der Eisernen Ferse wieder aus ihrem Versteck in einer Höhle wagen. Obwohl sie ihr Äußeres und ihre Persönlichkeit stark verändert haben, werden sie zuletzt von den Söldern der Eisernen Verse gefangen genommen. Da die von Avis in einem Baum versteckten Aufzeichnungen jedoch abbrechen, ist am Ende nicht ersichtlich, wie genau die Verhaftung und die Hinrichtung der beiden, die wenig zuvor das umfassend beschriebene “Blutbad von Chikago” überleben haben, vor sich gegangen sind – sehr zum Leidwesen des fiktiven Herausgebers, der immer wieder mit Fußnoten das Geschehen erläutert und kommentiert.
Die Geschichte auf dem Wege zu sich selber, oder: Marx für Anfänger
Der von London beschriebene und vom unerträglich unfehlbaren Ernst prognostizierte Verlauf der Ereignisse folgt bis ins letzte der von Karl Marx entworfenen Entwicklung der gesellschaftlichen Klassen. Dabei wird trotz der Übermacht der Eisernen Ferse, d.h. der ‘Bourgoisie’, der letztendliche Sieg der ‘Proletarier’ durch die Herausgeberfiktion deutlich gemacht. Ziel des Romans ist es letztendlich, dem Leser die Grundlagen der kommunistischen Theorie unterhaltsam anhand konkreter Beispiele – die zuvor theoretisch von Ernst Everhard beschrieben wurden, zu vermitteln. Aus diesem Grunde machen die Ausführungen der zweiten Hauptfigur auch den Großteil der ersten Hälfte des Romanes aus. Der marxistische Prophet wird im ersten Teil so nicht nur zum Stichwortgeber der plangemäß verlaufenden Weltgeschichte, sondern auch der Romanhandlung selbst, die außer den ideologischen Ausführungen selbst und der illustrativen Ereignisse wenig zu bieten hat. Wenn Jack London nicht so gut schreiben könnte wie er kann, gerieten diese ersten 150 Seiten mit Sicherheit unerträglich.
Gegen den Ablauf der Ereignisse und den Auffassungen, die dem Werk zu Grunde liegen, lassen sich dementsprechend auch alle jene Argumente anbringen, die sich auch gegen die kommunistische Lehre selbst ins Feld führen lassen: Die monokausalen Erklärungen (Weltgeschichte als Klassenkampf – selbst der antizipierte Krieg mit dem deutschen Reich wird auf der Basis der marxschen Mehrwehrttheorie als ein Kampf um Absatzmärkte bzw. als Kampf zweier kapitalistischer Konkurrenten erklärt), die verschwörungstheoretischen Elemente (die gesellschaftlichen Institutionen arbeiten schon vor der offenen Herrschaft der Eisernen Ferse in einer Art und Weise zusammen, dass man den Eindruck erhält, sie würden von einer zentralen Instanz gelenkt) – und so weiter und so weiter…
Aber zurück zur Literatur selbst. Während der erste Teil also überwiegend der Vermittlung des Überbaus der Zukunft dient, führt hingegen der zweite Teil die Brutalität der tyrannischen Kapitalisten und ihrer Schergen sowie die Heldenhaftigkeit der unterlegenen Arbeiter vor Augen:
So erhielt ich meine Bluttaufe im Schlachthaus von Chikago. Früher war der Tod für mich Theorie, seit er aber eine einfache Tatsache wurde, ist er so leicht. Aber die Söldner gaben sich nicht mit dem Erreichten zufrieden. Sie drängten sich in den Hauseingang, töteten die Verwundeten und suchten die Unverwundeten, die sich gleich uns tot stellten. Ich erinnere mich an einen Mann, den sie aus dem Haufen herauszogen und der verächtlich flehte, bis eine Revolverkugel ihn niederstreckte. Hinter dem Haufen verteidigte sich eine Frau, höhnend und schießend.
Auffällig ist hier nicht nur die Vordergründigkeit der bluttriefenden Bilder, die für einen Roman von 1907 insgesamt bemerkenswert sind, sondern auch die die Abfälligkeit, mit der das nichtorganisierte Lumpenproletariat, das hier als Volk des Abrundes bezeichnet wird, sprachgewaltig, aber von oben herab, beschrieben wird:
Es erhob sich über jede Einbildung hinaus zu körperlichen Wogen des Zorns, knurrend und murrend, fleischfressend, trunken vom Schnaps aus geplünderten Läden, trunken von Hass und trunken von Blutgier – Männer, Frauen und Kinder, zerfetzt und zerlumpt, blöde, wilde Tiere, von deren Zügen alles Göttliche [!] gewichen und Teuflischem Platz gemacht, Affen und Tiger, blutarme, schwindsüchtige, langhaarige Lasttiere, bleiche Gesichter, denen der Vampir Gesellschaft alle Lebenskraft ausgesogen hatte. Aufgedunsene von Roheit und Verkommenheit strotzende Gestalten, verwirrte Hexen und Totenköpfe mit Patriarchenbärten… und so weiter und so weiter…
Einen Lichtblick stellen die zwar vom fiktiven Herausgeber ernstgemeinten, aber aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts durchaus witzigen Kommentare und die geschickte Anlage des Romans dar, allerdings fallen diese angesichts der unbeugsamen, nicht korrumpierbaren, nahezu nie fehlgehenden Everhards (nomen est omen) bei der Bewertung des Romanes kaum ins Gewicht – zumal die Mehrzahl der übrigen Figuren unter ideologischen Gesichtspunkten und nach ‘Klassenzugehörigkeit’ – häufig stereotyp – gezeichnet wird. Dass aus heutiger Perspektive zudem die zentralen Aussagen des Romans insofern problematisch sein dürften, als dass nicht nur das sichere Kommen des sozialistischen Weltstaates prophezeit, sondern auch die Auffassung vertreten wird, dieser sei nur durch eine blutige Arbeiterrevolte im Zeitalter der “bürgerlichen” Demokratie zu erreichen, steht dabei noch auf einem ganz anderen, historischen und ideologischen, Blatt.
Fazit
Letzten Endes erweist sich Die eiseren Ferse, die nach Ansicht Erich Fromms die ersten aller Dystopie überhaupt darstellt*, als “linientreuer” marxistischer Zukunftsroman, der heute für jene Leser, die an der Theorie des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus nicht interessiert sind, nur durch den sprachlichen Stil Jack Londons überhaupt und die wenigstens manchmal spannend geratenen Abenteuer der Everhards erträglich werden dürfte.
*Fromm, Erich: 1984 (Nachwort), New American Library, 1977, Seite 316.